Anthropologische Grundlagen normativer Rede

[= Teilprojekt A 8 / TP 10 im SFB 511 „Literatur und Anthropologie“]

Projektleiter: Prof. Dr. Gottfried Seebaß
Projektbearbeiter: Dr. Neil Roughley (UP 1, 1996–1999), Dunja Jaber, M.A. (UP 2, 1996–1999), Dr. Margit Sutrop (UP 3, 1999–2001)

Unterprojekt 1: Anthropologische Elemente moralischer und ästhetischer Geltungsansprüche

Grundfrage des Projekts war, ob und, wenn ja, wie weit evaluative und normative Urteile in den Bereichen der Moral und der Ästhetik von anthropologischen Annahmen abhängen. Die Frage wurde zum einen diagnostisch verstanden: In wie fern setzen die durch spezifische Moral- und Kunsttheorien begründeten Urteilen eine bestimmte anthropologische Sichtweise voraus. Zum anderen wurde die Frage auch justifikatorisch aufgefasst, d.h. sie zielte auf systematische Anforderungen an gültige Urteile in den zwei Bereichen. Die Arbeit am Projekt bestand im Wesentlichen aus drei Strängen. Ziel des ersten Strangs war die Unterscheidung verschiedener Konzeptionen des Anthropologischen sowie die Ausarbeitung plausibler Modelle ihrer Begründung. Diese Arbeit profitierte von interdisziplinärer Zusammenarbeit, u. a. mit Psychologen, Biologen, Soziologen und Literaturwissenschaftlern. Es wurden drei Begriffe der menschlichen Natur (MN1, MN2, MN3) unterschieden, wobei argumentiert wurde, dass die mit manchen Varianten der philosophischen Anthropologie assoziierten These der Untrennbarkeit deskriptiver und evaluativer Komponenten der menschlichen Natur sich nicht aufrechterhalten lässt. Im zweiten und im dritten Strang des Projekts wurde die Rolle struktureller Merkmale der charakteristischen menschlichen Lebensform (der MN2) bei moralischen und ästhetischen Urteilen untersucht. Im Bereich der Moral wurde argumentiert, dass sowohl der klassische, hedonistische Utilitarismus als auch der Kantianismus an Vereinseitigungen ihrer anthropologischen Basis kranken: Das Grundkriterium der Moral wird in Theorien des ersten Zuschnitts auf passivische Empfindungsdispositionen zurückgeführt, während für Kantianer das Moralkriterium in einem aktivischen Vermögen – der Autonomie (Kant) oder der reflexiven Selbstbewertung (Korsgaard) – gründet. Im Bereich der Ästhetik wurde die zuerst von Baumgarten vertretene Konzeption verteidigt, der zufolge eine konstitutive Dimension der verschiedenen Kunstsparten die Inanspruchnahme der charakteristischen menschlichen Fähigkeit zur ästhetischen Erfahrung ist. Diese Position wurde zum einen durch eine neue Analyse des Begriffs der ästhetischen Erfahrung gestützt, zum anderen durch die Zurückweisung von Einwänden begründet, die das Ästhetische als für moderne Kunst irrelevant (Binkley) oder als auf semiotische Mechanismen reduzierbar (Goodman) sehen.

Publikationen
Neil Roughley: The Role of Agency in Morality. Reflections on Kantian Moral Anthropology, Arbeitspapier 8 des Sonderforschungsbereichs 511 Literatur und Anthropologie, Universität Konstanz 1996.

Neil Roughley: „Welcher Stellenwert kommt dem Integritätsbegriff im praktischen Überlegen zu?“, in: G. Meggle (ed.): Analyomen 2. Proceedings of the 2nd Conference “Perspectives in Analytical Philosoph”, Vol. III, Berlin (de Gruyter) 1997, 324–331.

Neil Roughley: „Mögen und Wünschen. Zur volitiven Definition des Hedonischen“, in: J. Mittelstraß (ed.): Die Zukunft des Wissens. XVIII. Deutscher Kongreß für Philosophie. Konstanz 1999, Workshop-Beiträge, Konstanz (UVK Universitätsverlag) 1999, 336–343.

Martin Endreß/Neil Roughley (eds.): Anthropologie und Moral. Philosophische und soziologische Perspektiven, Würzburg (Königshausen und Neumann) 2000.

Neil Roughley: „Anthropologie und Moral. Philosophische Perspektiven“, in: Endreß/Roughley 2000, 13–51.

Neil Roughley/Martin Endreß: „Anthropologie und Moral. Perspektiven der Beiträge“, in: Endreß/Roughley 2000, 99–111.

Neil Roughley (ed.): Being Humans. Anthropological Universality and Particularity in Transdisciplinary Perspectives, Berlin / New York (de Gruyter) 2000.

Neil Roughley: „On Being Humans. An Introduction“, in: Roughley 2000, 1–21.

Neil Roughley: „World-Openness and the Question of Anthropological Universalism. Comments on Justin Stagl’s Paper“, in: Roughley 2000, 37–44.

Neil Roughley: „Afterword: ‘Human Nature’. A Conceptual Matrix“, in: Roughley 2000, 379–390.

Neil Roughley: „Of Dentistry and Artistry. The Concept and some Contexts of the Aesthetic“, in: H. Kotthoff/H. Knoblauch (eds.): Oral Art Across Cultures. The Aesthetics and Proto-Aesthetics of Communication, Tübingen 2001 (Narr), 121–135.

Neil Roughley: „The Uses of Hierarchy: Autonomy and Valuing“, in: Philosophical Explorations, Band V, 2002, 167–185.

Neil Roughley: „Normbegriff und Normbegründung im moralphilosophischen Kontraktualismus“, in: A. Leist (ed.): Moral als Vertrag?, Berlin / New York (de Gruyter) 2003, 213–243.

Neil Roughley: „Kann Kunst anästhetisch werden?“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 59, 2005, 65–83.

Neil Roughley: „What is a Moral Science?“, in: Current Anthropology, Band 46, 2005, 451–452.

Neil Roughley: „Was heißt ‚menschliche Natur‘? Begriffliche Differenzierungen und normative Ansatzpunkte“, in: K. Bayertz (ed.): Die menschliche Natur. Welchen und wieviel Wert hat sie?, Paderborn (Mentis) 2005, 133–156.

Unterprojekt 2: Das Menschenbild im Recht. Zur Kon­kre­ti­sierung des ver­fas­sungs­rechtlichen Begriffs der Menschenwürde

Dass die Würde des Menschen unantastbar sei, ist bekanntlich eine der populärsten, aber auch eine der umstrittensten Aussagen des Grundgesetzes. Dabei wird eine sachorientierte Diskussion oft durch mehr oder minder unausgewiesene semantische und historische Annahmen blockiert. Ausgehend von dieser Beobachtung hatte das Projekt deshalb zum einen das Ziel, herauszuarbeiten, wie sich unterschiedliche Bedeutungen des Ausdrucks „Menschenwürde“ systematisch gegeneinander abgrenzen und ethischen Fragestellungen bzw. Positionen zuordnen lassen. Zum anderen sollte die Einführung des Ausdrucks in das Verfassungsrecht sorgsam und kritisch nachgezeichnet werden. Das Hauptaugenmerk galt dabei Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, dessen Gehalt in Auseinandersetzung mit der bisherigen Rechtsprechung selbständig rekonstruiert wurde. Die Monographie, die aus diesem Projekt hervorging, wurde im Sommersemester 2001 als Dissertation an der Universität Konstanz angenommen.

Publikation
D. Jaber: „Über den mehrfachen Sinn von Menschenwürde-Garantien“, Frankfurt/London 2003 (Ontos), 373 Seiten.

Unterprojekt 3: Anthropologische Elemente emotiv fundierter moralischer Urteile

Das Projekt untersuchte die systematische Frage, welche Rolle die menschliche Emotionalität, speziell das Gefühl der Sympathie und das in ihm vorausgesetzte Vermögen der Einbildungskraft, für das moralische Urteil und die ästhetische Erfahrung spielen. Historischer Bezugs- und Ausgangspunkt war Adam Smiths differenzierter Versuch einer gefühlstheoretischen Moralbegründung, der einer eingehenden Analyse, Reinterpretation und kritischen Neubewertung unterzogen wurde. Zunächst wurde herausgearbeitet, dass Smiths Theorie den klassischen Einwänden gegen emotivistische Ansätze standzuhalten vermag und wegen ihrer Betonung der Intersubjektivität moralkonstitutiver Gefühle einen phänomenal besonders überzeugenden Ansatzpunkt bietet. In enger Auseinandersetzung mit konkurrierenden Untersuchungen zur Sympathie, die großenteils der ästhetischen Diskussion entstammen, wurde sodann Smiths Analyse der „Sympathie“ als eines imaginativen Platztausches präzisiert. Besonderes Augenmerk galt danach der moralisch objektivierenden Figur des „unparteiischen Zuschauers“, dem Smith – entgegen der Meinung einiger Kritiker – keineswegs den Standpunkt einer idealen, gottähnlichen Figur zuweist, sondern auch hier, wie gezeigt wurde, seinem deskriptiven Ansatz treu bleibt, orientiert an alltäglichen psychologischen und soziologischen Phänomenen. Weitere Arbeitsschritte waren Smiths Theorie der moralischen Motivation und seinem Menschenbild gewidmet. Die Smith von manche Autoren zugeschriebene Ansicht, moralisches Handeln sei vom Wunsch getragen, innere Sanktionen zu vermeiden, und somit in letzter Instanz von einer Spielart des egoistischen Glücksstrebens, bestätigte sich nicht. Vielmehr konnte verdeutlicht werden, dass Smith ein allen Menschen eignendes Harmoniebedürfnis für die eigentliche Triebfeder der Moral hält, ohne dass Smiths komplexes Menschenbild sich einseitig zugunsten einer egoistischen (Hobbes, Mandeville) oder altruistischen Theorie (Hutcheson, Shaftesbury) auflösen ließe. Einige Arbeiten, die aus dem Projekt hervorgegangen sind, hat die Projektbearbeiterin erst nach ihrer Berufung auf den Lehrstuhl für praktische Philosophie der Universität Tartu, Estland, fertiggestellt und veröffentlicht.

Publikationen bis 2001
Margit Sutrop: „Sympathy, Imagination, and the Readers’ Emotional Response to Fiction“, in: J. Schlaeger/G. Stedman (eds.): Representations of Emotions, Tübingen (Narr) 1999, 29–42.

Margit Sutrop: „Die Moralpilosophie der Aufklärung über die Natur des Menschen“ (auf Estnisch), in: Vikerkaar, Band 11−12, 1999, 119–130.

Margit Sutrop: „Das gute Leben, Moral und soziale Gerechtigkeit“ (auf Estnisch), in: Akadeemia, Band 12, 2000, 1638–1666.

Margit Sutrop: „Setzen die Vorstellungen das Vorhandensein den mentalen Bilder voraus?“, in: G. v. Graevenitz et al. (eds.): Die Unvermeidlichkeit der Bilder, Tübingen (Narr) 2001, 243–253.

Margit Sutrop: „Review of Amie Thomasson’s book ‘Fiction and Metaphysics’ (Cambridge: CUP 1999)“, in: European Journal of Philosophy, Band 9, 2001, 135–139.