Gedankenexperimente zwischen Wissenschaft und Literatur: Rhetorik, Narration, Fiktion

24.-25. Januar 2014, Ruhr-Universität Bochum

Der Workshop widmet sich einem der Schwerpunkte der Forschergruppe und hinterfragt die Eindeutigkeit der Unterscheidung zwischen kognitiv relevanten und rein fiktionalen Gedankenexperimenten. Zum diesem Zweck nimmt der Workshop Verschränkungsmomente von Wissenschaft und Literatur unter die Lupe: auf der einen Seite die rhetorisch-narrative Dimension wissenschaftlicher Gedankenexperimente, auf der anderen Seite die Erkenntnisfunktion von Gedankenexperimenten in fiktionalen Texten.

Der Workshop knüpft an aktuelle Debatten in der Wissenschaftstheorie und in der Literatur- und Kulturwissenschaft an, die um solche ‚Überlappungszonen‘ des Wissens kreisen. Die Literatur- und Kulturwissenschaft, die Wechselwirkungsprozesse zwischen naturwissenschaftlichen Versuchsanordnungen und literarischen Schreibweisen seit einiger Zeit verstärkt untersucht, sieht im Gedankenexperiment die Legierung von formaler Beweisführung und imaginativen Möglichkeitsräumen: Im Gedankenexperiment offenbart sich eine „Praxis des Fingierens“ (S. Weigel), bei der die Beobachtung von Naturgesetzen im status conditionalis mittels Hypothesen- und Modellbildung dem poetologischen Begriff der Wahrscheinlichkeit entspricht. In der Wissenschaftstheorie werden Gedankenexperimente nicht nur als eine spezielle Art von Argumenten verstanden, bei denen die rhetorisch-narrative Darstellungsform in logischer Hinsicht überflüssig ist (J. Norton); vielmehr wird verstärkt darauf hingewiesen, dass die sprachliche Präsentation eines Gedankenexperiments nicht beliebig veränderbar ist (R. Sorensen, L. Souder), und dass Gedankenexperimente Argumente narrativ ins Szene setzen, indem sie eine Abfolge von Ereignissen bzw. Prozessen als dynamische Szene simulieren (N. Nersessian).

Der Workshop führt Spezialisten aus Wissenschaftstheorie und -geschichte sowie Literatur- und Kulturwissenschaft zusammen, um die umrissene Thematik nicht zuletzt durch einen methodologischen Austausch zu vertiefen. Besondere Aufmerksamkeit soll u.a. folgenden Aspekten gewidmet werden: dem Zusammenspiel von logischer Argumentation und rhetorisch-narrativen Strukturen im wissenschaftlichen und literarischen Diskurs; der Frage nach der wissensgenerierenden (und nicht erkenntnisvermittelnden) Funktion von rhetorischen und narrativen Verfahren in wissenschaftlichen Gedankenexperimenten; den strukturellen und epistemologischen Voraussetzungen, unter denen man von
fiktionalen Texten als Gedankenexperimenten sprechen kann. Dabei soll der Akzent besonders auf die Kultur der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts gelegt werden, in der zahlreiche Wechselwirkungsprozesse zwischen Wissenschaft und Literatur stattfanden: Man denke an die programmatische Wissenschaftlichkeit naturalistischer Literatur und an die explizite Rhetorizität der Darwinschen Evolutionstheorie, oder an die Auseinandersetzungen um den Begriff des Gedankenexperiments (E. Mach) sowie insgesamt um das Darstellungsproblem im wissenschaftlichen Diskurs.

Organisation: Teilprojekt P6 „Fiktionale Gedankenexperimente. Kontrafaktisches Erzählen zwischen Wissenschaft und Literatur“ (Prof. Dr. Riccardo Nicolosi)