Dimensionen menschlicher Willensschwäche

[= DFG-Einzelprojekt, 2001–2005 ]

Projektleiter: Prof. Dr. Gottfried Seebaß
Projektbearbeiter: Dr. Neil Roughley (UP 1), Dr. Barbara Guckes (UP 2)

Beschreibung des Gesamtprojekts

Das Projekt unternimmt es, das traditionelle europäische Bild vom Menschen, das diesen in weitgehend dekontextualisierter Form als rational handlungsfähiges Wesen hinstellt, kritisch zu hinterfragen, indem es sein Handeln in Kontexten analysiert, die als Bedingungen für „Willensschwäche“ gelten. Das soll nach zwei verschiedenen, einander komplementären Seiten hin geschehen, verteilt auf zwei Teilprojekte. Beide beziehen sich auf die in der philosophischen Handlungstheorie bis heute dominierende Sokratisch-Platonische bzw. Aristotelische Konzeption von praktischer Rationalität, deren Zurückweisung von „willensschwachen“ Handlungen „gegen die bessere Einsicht“ als ein Versuch gewertet wird, die Vorstellung vom Menschen als eines zwar freiheitsbeschränkten und theoretisch vielfältig defizienten, praktisch aber durchgängig rationalen Wesens gegen bestehende Zweifel zu retten. Sie unterscheiden sich jedoch grundsätzlich in ihrer Themenstellung:

Teilprojekt 1 ist rationalitätstheoretisch ausgerichtet. Gefragt wird nach der Signifikanz, die Willensschwächephänomene für Art und Umfang praktischer Überlegungen haben sowie für die Stellung des Subjekts in ihnen. Die „bessere Einsicht“, die willensschwach verletzt werden kann, ist die des rationalen Eigeninteresses, das sich aus subjektiven Wünschen und Präferenzen ergibt und im Prinzip beliebig spezifizierbar ist.

Im Unterschied dazu ist Teilprojekt 2 moralphilosophisch ausgerichtet. Hier geht es um normativ Gutes bzw. Besseres, das inhaltlich spezifiziert und den Normadressaten objektiv vorgegeben ist - sei es als Anspruch einer Gesellschaft, Religion oder Philosophie oder auch nur einer privaten Lebensregel. Dies „willensschwach“ zu verletzen heißt weniger, die eigene Rationalität als die eigene Moralität bzw. die Geltung der Normen in Frage zu stellen und muß daher keineswegs immer ein Zeichen persönlicher Schwäche sein.

Beide Teilprojekte werden sich mit verschiedenen, für ihr Thema relevanten philosophischen Texten auseinandersetzen, vor allem solchen, die in der Behandlung des Willensschwächeproblems bislang nur unzureichend genutzt wurden. Außerdem ist beabsichtigt, einschlägige Arbeiten der Psychologie und Texte der Weltliteratur mit heranzuziehen, die geeignet sind, den Phänomenbereich zu erweitern und konzeptionelle Verengungen der philosophischen Tradition aufzubrechen.

Teilprojekt 1

Willensschwäche in subjektiv-praktischen Überlegungsprozessen
Projektbeschreibung

Das Projekt ist von der Vermutung geleitet, daß das einflußreiche, auf Aristoteles zurückgehende, in veränderter Form aber auch in der rationalen Entscheidungstheorie zugrundegelegte Modell subjektiv praktischen Überlegens einer substantiellen Modifikation bzw. Ergänzung bedarf. Als Indiz hierfür wird die Schwierigkeit gewertet, auf der Grundlage dieses Modells Phänomene einer „schwachen Willensbildung“ adäquat zu erfassen. Diese Defizite sollen genau herausgearbeitet und ihre Ursachen freigelegt werden. Danach wird auf der Basis einer Fehleranalyse ein neues integratives Konzept entwickelt.

Adäquatheitskriterium und methodischer Ansatzpunkt für dessen Gewinnung ist die Fähigkeit, relevante Phänomene der Willensschwäche verständlich zu machen. Diese werden hier, anders als im moralphilosophisch ausgerichteten zweiten Teilprojekt, speziell auf den Fall einer nicht normengeleiteten, sondern ausschließlich am jeweils eigenen Wünschen und Wollen orientierten, rational „schwächeren“ oder „stärkeren“ Willensbildung bezogen. Dabei soll es nicht nur um die in der philosophischen Forschung bislang im Vordergrund stehende Frage gehen, ob es möglich ist, gegen eine situativ durch eigeninteressierte Überlegungen erlangte „bessere Einsicht“ zu handeln. Vielmehr soll das gesamte Feld der als Ausdruck von „Willensschwäche“ geltenden Defekte berücksichtigt werden. Es wird nämlich vermutet, daß diese nicht nur nach Abschluß der Überlegung beim Übergang zum Handeln auftreten können, sondern bereits im Überlegungsprozeß selbst, und daß dies vor allem mit der Tatsache zusammenhängt, daß es sich dabei um zeitlich ausgedehnte Prozesse handelt, deren Ablauf nicht einem Automatismus folgt, sondern selbst willensgesteuert ist. Das soll an drei zentralen Problemkomplexen herausgearbeitet werden: (1) Form und Ablauf von Überlegungsprozessen, (2) Begrenztheit von Zeit- und Informationsressourcen und (3) Rolle des Subjekts, das sich distanziert oder selbstidentifikatorisch auf das eigene Wünschen und Wollen bezieht. Abschließend soll geprüft werden, welche Auswirkungen die notwendig gewordenen Revisionen auf das für die europäische Tradition charakteristische Verständnis des Menschen als eines Wesens haben, das rational, frei und zurechenbar handeln kann.

Publikationen

Neil Roughley: „Externalismus, ethischer“, in: J. Mittelstraß (ed.), Enzyklopädie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2, 2. Auflage, Stuttgart/Weimar (Metzler) 2005, 463–465.

Neil Roughley: „Wille VII (analytische Philosophie)“, in: J. Ritter/K. Gründer (edd.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 12, Basel (Schwabe) 2005, 794–796.

Neil Roughley: „Willensschwäche und Personsein“, erscheint in: F. Kannetzky/H. Tegtmeyer (eds.), Personalität [= Leipziger Schriften zur Philosophie 18], Leipzig (Universitätsverlag) 2007, 144–161.

Neil Roughley: „Das irrationale Tier“, in: W.-J. Cramm/G. Keil (eds.): Der Ort der Vernunft in einer natürlichen Welt, Weilerswist (Velbrück), 2008, 216–233.

Neil Roughley: „Absicht/Intention“, in: P. Kolmer/A. Wildfeuer (eds.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg i.Br (Alber) 2011.

Neil Roughley: Wanting and Intending, Dordrecht (Springer) 2013, 340 Seiten.

Teilprojekt 2

Formen moralischer Willensschwäche
Projektbeschreibung

Innerhalb der Gesamtfragestellung des Teilprojekts hat das zweite Teilprojekt - anders als das rationalitätstheoretische erste - die Aufgabe, die moralischen bzw. moraltheoretischen Konsequenzen zu untersuchen, die sich ergeben, wenn man das traditionelle europäische Bild vom Menschen als rationalem Akteur mit Phänomenen „moralischer Willensschwäche“ konfrontiert. Diese umfaßt verschiedene, vielfältig ausdifferenzierte Formen des rational irritierenden Abweichens von der generellen und/oder situativ konkretisierten Einsicht, daß eine Handlung die moralisch richtige ist.

Moralphilosophisch verfolgt das Projekt das weiterreichende Ziel, genauer zu verstehen, wie Menschen moralisch motiviert werden, und damit zur Klärung der Bedingungen beizutragen, unter denen sie normativ ansprechbar und steuerbar sind. Das allerdings - so die zentrale Hypothese - kann nur durch eine systematische, kritische Auseinandersetzung mit dem (zumindest im westlichen Kulturkreis) bis heute dominierenden rationalistischen Paradigma erreicht werden, insbesondere mit der Idee des moralischen Prinzipialismus. Durch Überwindung der hier bestehenden Verkürzungen und Einseitigkeiten, die sich in verschiedenen Problemfeldern zeigen und in der Konfrontation mit Phänomenen moralischer Willensschwäche besonders hervortreten, wird der Weg frei für eine angemessenere Moralkonzeption, die der menschlichen Wirklichkeit mehr entspricht. Kritisch mitreflektiert werden muß dabei zugleich die These vom Vorrang der Moral vor anderen Werten und Handlungsorientierungen, sowie ihre mögliche Universalisierbarkeit oder eventuelle kulturelle Relativität.

Durchgeführt werden soll dieses Vorhaben in drei systematisch aufeinander aufbauenden Schritten, von denen der erste der phänomenalen Bestandsaufnahme und Typologie moralischer Willensschwäche gewidmet ist, der zweite der Gewinnung einer deskriptiv wie explanativ angemessene Theorie und der dritte der anthropologischen bzw. kulturkritischen Perspektivierung. Neben Texten der älteren wie neueren Moralphilosophie und Handlungstheorie werden vor allem im ersten Forschungsschritt auch Texte der Weltliteratur herangezogen, im zweiten und dritten auch Texte und Theorien aus Nachbardisziplinen, insbesondere der Psychologie.

Publikationen

Barbara Guckes: „Do Conflicts Make Us Free?“, in: P. Baumann/M. Betzler (eds.): Practical Conflicts. New Philosophical Essays, Cambridge (University Press) 2004, 316–333.

Barbara Guckes: „Stoische Ethik – eine Einführung“, in: B. Guckes (ed.), Zur Ethik der älteren Stoa, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2004, 7–29.

Barbara Guckes: „Akrasia in der älteren Stoa“, in: B. Guckes (ed.): Zur Ethik der älteren Stoa, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2004, 94–122.

Barbara Guckes: „Willensschwäche und Zwang“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 23, 2005, 179–201.

Barbara Guckes: „Eine Verteidigung der Möglichkeit von Willensschwäche“, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 13 (2005), 112–130.

Barbara Guckes: „Dilemma“, in: S. Gosepath/W. Hinsch/B. Rössler (eds.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin (de Gruyter) 2008.

Barbara Guckes: „Handlungs- und Entscheidungsfreiheit in der aristotelischen Philosophie“, in: C. Rapp/K. Corcilius (eds.): Beiträge zur Aristotelischen Handlungstheorie, Stuttgart (Steiner) 2008.