Normativität und Freiheit

[= Teilprojekt B 11 des SFB 485 „Norm und Symbol“, 2006–2009 ]

Projektleiter: Prof. Dr. Gottfried Seebaß
Projektbearbeiter: Dr. Michael Kühler (UP 1), Nadja Jelinek, M.A. (UP 2)

Projektbeschreibung

Normativität und Freiheit sind durch zwei nahe liegende, gegenläufige Abhängigkeitsbeziehungen miteinander verknüpft. Einerseits setzen sinnvolle Normen voraus, dass die Normadressaten frei sind, sie zu erfüllen, enggeführt in dem römischen Rechtsgrundsatz „impossibilium nulla obligatio“ bzw. dem philosophischen Satz „Sollen impliziert Können“. Andererseits ziehen geltende Normen Freiheitsbeschränkungen nach sich. Beide Zusammenhänge gelten traditionell als so eng, dass sie als Schlussprinzipien verwendet werden. Das gilt für beide Richtungen, ganz besonders aber für den Schluss aus der fehlenden oder signifikant beschränkten Freiheit auf die mangelnde Applikabilität, Legitimität oder Geltung von Normen. Personen, die (zu Recht oder Unrecht) glauben, eine Norm nicht bzw. nicht im geforderten Umfang erfüllen zu können, werden sich über kurz oder lang nicht mehr an ihr ausrichten und schließlich auch ihre Legitimität und Geltung in Frage stellen, explizit oder implizit. Personen wiederum, die eine Norm vorzüglich oder sogar ausschließlich als freiheitsbeschränkend begreifen, werden ähnliche Legitimitätszweifel entwickeln; oder sie werden zwar ihre soziale Bedeutung und Geltung generell anerkennen, aber bestrebt sein, sie partikular zu unterlaufen, wo immer das sanktions- oder kostenfrei möglich ist. Beide Reaktionen erscheinen prima facie rational. Ebenso nahe liegend ist ihre überindividuelle Verallgemeinerung. Insofern sind beide Schlussprinzipien geeignet und werden auch von jeher dazu herangezogen, bestehende normative Bindungen zu erschüttern und Prozesse der Transformation oder Subversion bis zum totalen Zusammenbruch normativ konstituierter sozialer und politischer Ordnung zu befördern.

Das philosophische Teilprojekt ist der kritischen Prüfung dieser zwei klassischen, komplementären Schlussprinzipien gewidmet, und damit zugleich den begrifflichen Grundlagen wie auch der sozialen Relevanz des Verhältnisses zwischen Normativität und Freiheit. Es greift somit eines der großen Probleme auf, die bereits seit der Antike anhaltend und kontrovers diskutiert werden und die zugleich, innerhalb wie außerhalb der Philosophie, eine bedeutende geistesgeschichtliche Wirkung entfaltet haben. Im Gesamtverbund des SFB soll das Projekt dazu beitragen, den Blick zu schärfen für die impliziten „Negativwerte“ und die „latente Gewalt“, die von etablierten Normierungen ausgehen können, um schließlich zu einem verbesserten Verständnis des Potentials wie auch der Grenzen einer freiheitstheoretischen Begründung von Prozessen der sozialen bzw. politischen Neuordnung und Restrukturierung gelangen zu können.

Entsprechend den beiden klassischen Schlussprinzipien gliedert sich das Teilprojekt in zwei Unterprojekte:

Unterprojekt 1: Sollen ohne Können?

behandelt die Frage, ob bzw. inwiefern die fehlende Freiheit von Normadressaten geeignet scheint, normative Ansprüche zurückzuweisen oder von vornherein als sinnlos zu klassifizieren. Problematisiert wird somit der Gedanke, Freiheit sei eine Voraussetzung für Normativität. Die Arbeitshypothese lautet, dass eine (wie immer begründete) Verneinung freiheitsrelevanten Könnens nicht immer, oder doch nicht in jeder Hinsicht, zur Aufhebung bestehender Sollensansprüche führt und damit auch nicht zu einer so zu begründenden Kritik geltender Normen.

Unterprojekt 2: Brauchen wir Normen, um frei zu sein?

hinterfragt den behaupteten Ausschluss von Freiheit durch normative Gebundenheit. Geleitet von der Vermutung, dass normative Bindungen keineswegs nur Freiheitsbeschränkungen mit sich bringen, soll einerseits die vergleichsweise schwache These, dass normative Gebundenheit oft mit der Freiheit des Normadressaten vereinbar sei, untersucht werden, andererseits aber vor allem auch die viel stärkere Behauptung, bestimmte Formen der Freiheit würden durch normative Bindungen erst ermöglicht.

Publikationen

Michael Kühler: „Did you do something wrong if you couldn’t have done otherwise? – Deontic act evaluation and some doubts concerning ‘ought implies can’“, in: G. Gasser/C. Kanzian /E. Runggaldier (eds.): Kulturen: Streit-Analyse-Dialog. Beiträge des 29. Internationalen Wittgenstein Symposiums, Kirchberg am Wechsel 2006, 162–164.

Michael Kühler: „Ethik: Mehr als ‚nur‘ im eigenen Interesse?“, in: Erwägen Wissen Ethik, Bd. 17/4, 2006, 487–489.

Michael Kühler: „Musik und Sprache: Analogien aus philosophischer und musikwissenschaftlicher Perspektive“, in: Erwägen Wissen Ethik, Bd. 18/4, 2007, 568–570.

Michael Kühler: „Political Legitimacy and Its Need for Public Justification. A Commentary on Hinsch“, in: J. Kühnelt (ed.): Political Legitimization without Morality?, Dordrecht (Springer) 2008, 53–58.

Michael Kühler: „Moralische Dilemmata, die Gefahr moraltheoretischer Inkonsistenz und der zugrunde gelegte Pflichtbegriff“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 62/4, 2008, 516–536.

Michael Kühler: „Sollen impliziert Können – begrifflich?“ in: M. Fürst/W. Gombocz/C. Hiebaum (eds.): Analysen, Argumente, Ansätze. Beiträge zum 8. Internationalen Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie in Graz, Frankfurt am Main: Ontos, 2008, 363–370.

Michael Kühler/Nadja Jelinek (eds.): Autonomy and the Self, Dordrecht (Springer) 2013, 328 Seiten.

Michael Kühler/Nadja Jelinek: „Introduction“, in: Kühler/Jelinek 2013, ix–xxxvi.

Michael Kühler: „Who Am I to Uphold Unrealisable Normative Claims?“, in: Kühler/Jelinek 2013, 191–209.

Michael Kühler/Annette Dufner: Private Autonomy, Public Paternalism?, Sonderheft der Zeitschrift Ethical Theory and Moral Practice, in Vorbereitung.

Michael Kühler: Sollen ohne Können? Über Sinn und Geltung nicht erfüllbarer Sollensansprüche, Paderborn (Mentis), in Vorbereitung.